Hand in Hand - Flüchtlingshilfe Walzbachtal

Logo zwei Hände greifen ineinander, eine hat weiße Hautfarbe, die andere dunkle

Die ersten Initiativen zur Flüchtlingshilfe Walzbachtal

Fast unmittelbar mit der Ankunft der ersten Flüchtlinge in der Gemeinschaftsunterkunft in Wössingen (Alemannenstraße) erklärten sich die ersten Walzbachtaler Bürger bereit, bei der großen Aufgabe der Integration zu helfen. Auf Initiative von Kerstin Futterer entwickelten sich Arbeitsgruppen, die verschiedene Bereiche abdecken. Für die Kinder gibt es eine Gruppe, die Hausaufgaben betreut. Sprachlehrer machen Angebote für Kinder und Erwachsene. Eine Fahrradwerkstatt sorgt sich um die Mobilität der Flüchtlinge. Darüber hinaus gibt es noch Gruppen, die regelmäßige Begegnungen zwischen Bürgern und Flüchtlingen oder Patenschaften organisieren. Die Spenden wollen auch verwaltet werden. Einzelheiten und Ansprechpartner finden sie auf den folgenden Seiten.
 
Die Sprecher der einzelnen Gruppen organisieren die Arbeit kollektiv in regelmäßigen Treffen. Diese Form der Arbeit hat sich als so effektiv herausgestellt, dass der ursprünglich angestrebte Vereinsstatus nicht mehr verfolgt wird.

Wer wohnt denn hier in Walzbachtal?

Im Jahr 2021 feiert die Gemeinde Walzbachtal ihr 50-jähriges Bestehen. Seitdem hat sie sich, wie auch schon in den Jahrzehnten davor, stark vergrößert und ist internationaler geworden. Wer sind die Menschen, die damals wie heute zugezogen sind?
Nachfolgend werden Einwohner von Walzbachtal porträtiert, die nicht aus dieser Region stammen, hier aber eine Heimat gefunden haben. Die Berichte wurden im Rahmen der Jubiläumsaktivitäten zum 50-jährigen Bestehen der Gemeinde Walzbachtal von der Flüchtlingshilfe Walzbachtal erstellt:


Yonas Segid
Yonas Segid lebt seit knapp zwei Jahren in Jöhlingen.
Damit gehört er im Gegensatz zu den bisher in unserer Porträtserie unter dem Titel „ Wer wohnt denn hier in Walzbachtal“ vorgestellten Menschen zur Gruppe der Zuwanderer, deren Integration in unsere Ortsgemeinschaft erst noch bevorsteht.
Yonas Segid ist 36 Jahre alt, verheiratet, Vater von zwei Kindern, Lehrer von Beruf und er stammt aus Eritrea. Er wurde 1985 in der Nähe von Asmara, der Hauptstadt Eritreas, geboren, besuchte 16 Jahre lang Schule und Universität, wurde Lehrer und unterrichtete Business Administration an einem College und heiratete seine drei Jahre jüngere ehemalige Schülerin Rahwa Hailu.
Warum verlässt ein so gesetteltes Paar seine Heimat und begibt sich auf eine gefährliche Flucht in eine ungewisse Zukunft? Amnesty International nennt Eritrea das Nordkorea Afrikas. Das Land ist hermetisch abgeriegelt, der Grenzübergang in beide Richtungen verboten und wird schwer bestraft, Tausende sitzen ohne Anklage unter lebensgefährlichen Bedingungen in Haft;  Folter und willkürliche Tötungen sind an der Tagesordnung. Die Regierung zwingt Männer und Frauen, auch Minderjährige, wann immer sie das befiehlt, zum obligatorischen Nationaldienst (d.h. Militärdienst und/oder Zwangsarbeit),auf unbestimmte Zeit, oft viele Jahre und ohne oder nur mit sehr geringem Lohn, der die Familien nicht ernährt und sie auf unbestimmte Zeit auseinanderreißt. Ein alle Lebensbereiche umfassendes Spitzelsystem hält die Bevölkerung in Angst und Schrecken. Kein Wunder, dass viele Eritreer die Flucht aus diesem Gefängnis antreten.
So auch Yonas und seine Frau.
Zunächst gelang seiner Frau die Flucht. Über Libyen, das Mittelmeer und Italien gelangte sie in die Schweiz, wo sie im Juli 2016 ihr erstes Kind gebar. Im November 2016 reiste sie in Deutschland ein und stellte einen Antrag auf  Asyl, das ihr gewährt wurde. Seit September 2017 lebt sie in Walzbachtal. Vier Jahre lang hatte Rahwa -  zunächst schwanger, dann mit ihrem Kind - alleine in der Fremde zurechtkommen müssen, bis ihr Mann im März 2020 im Rahmen des Familiennachzugs in die Bundesrepublik einreisen konnte. Die Beantragung des Familienvisums war sehr schwierig und es dauerte lange, bis er das Visum für die  Einreise nach Deutschland erhielt. Er machte sich auf den Weg nach Ugandas Hauptstadt, erhielt in der dortigen deutschen Botschaft das Visum und flog von dort direkt nach Deutschland.
Nun war die kleine Familie komplett und Yonas lernte seinen damals dreieinhalb Jahre alten Sohn kennen. Er besuchte den Integrationskurs und lernte fleißig Deutsch. Das war angesichts der Coronapandemie  gar nicht so einfach, denn der Unterricht fand überwiegend online mit einem Handy als Endgerät statt und es fehlte der Austausch mit anderen Menschen. Hinzu kam, dass angesichts beengter Wohnverhältnisse und  mit inzwischen zwei kleinen Kindern die Konzentration auf das Lernen erschwert wurde.
Yonas war nämlich wieder Vater geworden. Als er sein Kind zur Taufe in der evangelischen Kirche anmeldete  -  er und seine Frau sind Christen, wie überhaupt die Hälfte der eritreischen Bevölkerung  - kam er in Kontakt zur evangelischen Kirchengemeinde in Jöhlingen. Seither ist er ein oft gesehener Besucher der Gottesdienste und bietet immer mal wieder seine Hilfe an, wie zuletzt beim Etikettieren und Austragen des Gemeindebriefes diesen Monat. Darüber hinaus hat er seine Bereitschaft zur Kandidatur  für die Kirchengemeinderatswahl am ersten Adventsonntag erklärt und wurde zum Kirchengemeinderat gewählt.
Eine Arbeit und eine Wohnung zu finden, ist das nächste Ziel.
Wir wünschen ihm und seiner Familie, dass sie nach anfänglichen Schwierigkeiten genauso in unsere Gemeinde integriert sein werden wie die Menschen, die wir im Laufe des zu Ende gehenden Jahres vorgestellt haben. Die ersten Schritte sind getan.


Mijung Doo
Viele Jöhlingerinnen und Jöhlinger kennen Mijung Doo (sprich: Misong Du), die immer freundliche, ehemalige Bäckereiverkäuferin bei Gerweck/Thollembeek und jetzt allseits beliebte Erzieherin im Kinderhaus Regenbogen. Und manche kennen sie als Frau Kang. Wie kommt das?
Die Erzieherinnen und Lehrerinnen ihrer Kinder übertrugen den Familiennamen der Kinder auf die Mutter, nicht wissend, dass Frauen in Südkorea nach der Heirat ihren Familiennamen behalten und die gemeinsamen Kinder den Namen des Vaters annehmen. Und irgendwann hat Mijung darauf verzichtet, das immer wieder zu erklären und zu korrigieren. Inzwischen sind ihre Kinder erwachsen und aus dem Haus und niemand fragt mehr nach dem richtigen Namen.
 
Mijung wurde 1968 in Gunsan geboren, einer Industriestadt im Südwesten von Südkorea, am Gelben Meer gelegen, etwa von der Größe Karlsruhes und bekannt für die dort beheimateten Daewoo – Automobilwerke. Dort wuchs sie auf, machte das Abitur und eine Ausbildung zur Erzieherin. Danach betreute sie die Kindergartengruppe einer Kunstschule. 1995 heiratete sie und verließ zusammen mit ihrem Mann, einem Ingenieur, der die englische Vertretung des koreanischen Autobauers Daewoo  übernommen hatte, die Heimat Richtung Europa. Sie lebten im südenglischen Worthing, Mijung besserte ihr Schulenglisch auf und bekam ihre erste Tochter. Nach zwei Jahren wurden erneut die Koffer gepackt und die Reise ging nach Karlsruhe, wo Herr Kang eine Stelle als Projektleiter in der Automobilentwicklung antrat und bis heute dort arbeitet.
 
Für Mijung hieß das, wieder die Schulbank zu drücken und eine neue Sprache zu lernen, diesmal ohne Vorkenntnisse. Zwei Jahre fuhr sie täglich nach Karlsruhe und besuchte die Volkshochschule. Sie absolvierte mit großem Fleiß alle angebotenen Deutschkurse und legte die entsprechenden Prüfungen ab. Währenddessen wurden  ihre älteste Tochter im Kindergarten und die zweite, in Deutschland geborene Tochter in der volkshochschuleigenen Kinderbetreuung versorgt.
 
Als ihre jüngere Tochter in die vierte Klasse kam, verspürte Mijung den dringenden Wunsch, ihren auf die Familie begrenzten Lebensraum zu erweitern, arbeiten zu gehen, andere Leute kennenzulernen und vor allem mehr Praxis in der deutschen Sprache zu erwerben. Sie arbeitete vier Jahre in der Bäckerei Gerweck, dann wurde eine Stelle im Kinderhaus Regenbogen frei, und nun konnte sie wieder in ihrem erlernten Beruf arbeiten, nachdem sie ein Anerkennungsjahr absolviert hatte. Mijung liebt ihren Beruf und damit sie auch immer wieder auf dem neuesten pädagogischen Stand ist, absolviert sie gerne Fortbildungen, zuletzt eine Weiterbildung zur Kinderyogalehrerin. So gibt sie nun im Kindergarten Yogastunden und sie sagt: „Die Kinder lieben es total. Das macht mich so glücklich.“
 
Vor zehn Jahren bezog sie mit ihrer Familie ein Eigenheim auf dem Gageneck: nach ökologischen Vorgaben, energieeffizient,  mit Erdwärmepumpe und Zisterne. Inzwischen wohnt sie mit ihrem Mann alleine darin, die Töchter kommen nur noch zu Besuch. Die Ältere hat im letzten Jahr ihr Jurastudium beendet, die Jüngere studiert noch in Berlin.
 
In ihrer Freizeit widmet sich Mijung mit großer Liebe ihrem Garten. Überhaupt liebt sie die Natur, die Ruhe, die Abwesenheit von städtischer Hektik. Das ist auch ein Grund, warum sie so gerne in Jöhlingen lebt. In den vergangenen Jahren sind sie und ihr Mann passionierte Alpenwanderer geworden. Im Lockdown des Jahres 2020, als das Reisen nicht möglich war, erwanderte sich das Ehepaar den Kraichgau und war überrascht, wie schön es doch vor der eigenen Haustür ist.
Ein weiteres Hobby von Mijung ist das Singen im örtlichen Chor „Joy in Harmony“ und sie hofft gemeinsam mit ihren Sangesfreunden, dass die coronabedingte Unterbrechung bald zu Ende und das gemeinsame Proben wieder möglich sein wird.
 
Fragt man Mijung, wie es ihr anfangs in Deutschland erging und wie sie sich heute fühlt, erhält man folgende Antwort: “Wir kamen im Winter hier an. Es war kalt und dunkel, die Tage waren kurz, wir fühlten uns fremd und unsicher und einsam, wir hatten alle Verwandten und Freunde hinter uns gelassen und fragten uns immer wieder, ob wir nicht zurückgehen sollten. Nun sind wir schon fast 20 Jahre hier, fühlen uns wie zuhause und werden auch hier bleiben. Aber ein kleines Experiment haben wir noch vor: Sobald wir in Rente sind, kehren wir für zwei Jahre nach Südkorea zurück. Dann kommen wir wieder nach Deutschland  zu unseren Kindern und vielleicht auch Enkeln und verbringen hier unseren Lebensabend.“
Noch eine Sache möchte Mijung unbedingt erwähnen: Sie ist dem deutschen Schulsystem dankbar, das es den Kindern ermöglicht, ohne Drill und Härte zu lernen. Ihre Töchter hatten eine schöne Schulzeit und viele positive Erinnerungen daran.
 
Zurück nach Gunsan: Diese Stadt ist nicht nur als Industriestandort bekannt, sondern auch für ihre gute Küche. Wer einmal zu Gast bei Mijung war, unter anderem eine Gruppe von deutschen und koreanischen Gratulanten anlässlich ihres 50. Geburtstages, wird das bestätigen können.


Theresia Kurz
Theresia Kurz blickt mit ihren fast 90 Jahren auf ein ereignisreiches, von persönlichen Schicksals-schlägen gezeichnetes Leben zurück. Mit wachen Augen und hoch konzentriert berichtet sie im spannenden Vortrag von den einzelnen Lebensphasen. Schnell wird dem Zuhörer bewusst, dass mit Theresia Kurz eine selbstbewusste und mutige Frau ihre Lebensgeschichte erzählt.
Theresia wurde 1933 in Solymar bei Budapest geboren. Ihre Vorfahren waren als „Donauschwaben“ Ende des 17. Jahrhunderts in die Länder der Ungarischen Stephanskrone ausgewandert. Theresia wuchs mit 5 Geschwistern auf. Ihr Vater musste 1939 als Soldat in den Krieg ziehen. So lastete die ganze Last der Erziehung auf den Schultern ihrer Mutter. Nach dem 2. Weltkrieg wurden Donauschwaben in Ungarn entrechtet und enteignet. Etwa die Hälfte der Ungarndeutschen wurde aus ihrer Heimat vertrieben und in vielen Fällen in die Sowjetunion verschleppt.
Theresia Kurz berichtet:
„Im April 1946 begann die erste Phase der staatlich verordneten Aussiedlung der Ungarndeutschen aus Ungarn. In jeder Gemeinde hing eine genaue Namensliste der Umsiedlungspflichtigen aus. Unser Familienname „Schuck“ stand ebenfalls auf der Liste. Damals verstanden wir noch nicht, warum wir unsere Heimat verlassen mussten. Unser Vater befand sich zu diesem Zeitpunkt noch in Kriegs-gefangenschaft.
Mit 50 kg Gepäck (einige Kleider und ein paar Lebensmittel) wurden wir früh morgens in einem Pferdewagen zur Sammelstelle am Bahnhof gebracht. Ich bestieg mit meiner Mutter und meinen 5 Geschwistern (das Jüngste war gerade mal 3 Jahre alt) den bereitgestellten Transportzug, der aus an-einander gekoppelten Viehwaggons bestand. In unserem Waggon waren insgesamt 4 Familien unter unmenschlichen Bedingungen untergebracht. Dabei wurde keinerlei Rücksicht auf das Alter oder die Gesundheit der eingepferchten Menschen genommen. Niemand gab uns Auskunft über das Ziel der Zwangsreise. Die Vorstellung einer Verschleppung nach Russland versetzte viele von uns  in Angst- und Panikattacken. In regelmäßigen Abständen hielt der Zug auf freier Strecke, sodass die Leute zumindest ihrer Notdurft nachkommen konnten.
Nach 10 Tagen Zugfahrt ins Ungewisse hielt der Transport in einem uns unbekannten Bahnhof und wir stiegen voller Ungewissheit aus. Plötzlich hörten wir einen Mann voller Freude rufen: “Wir sind in Deutschland!“ Jetzt wurde uns mitgeteilt, dass wir in Karlsruhe angekommen waren. Erschöpft, aber überglücklich fielen wir uns vor Freude in die Arme, und die Tränen kannten keinen Halt mehr. Am Bahnhof warteten bereits mehrere Lastwagen, die uns in die Artilleriekaserne in der Moltkestraße brachten. Neben der Erstversorgung mit Nahrung wurden wir am nächsten Morgen ärztlich untersucht und entlaust. Für viele von uns bedeutete dieser Vorgang eine entwürdigende Maßnahme, da wir uns vor fremden Menschen entkleiden mussten. Nach einigen Tagen Aufenthalt im Übergangslager in der Moltkestraße, wurden wir in kleine Gruppen aufgeteilt, um auf freien Wohnraum in den umliegenden Gemeinden verteilt zu werden. Meine 7-köpfige Familie wurde nach Söllingen gefahren und dort vorübergehend in einem Klassenzimmer des alten Schulhauses untergebracht.
Einige Tage später musste uns eine Söllinger Familie zwangsweise aufnehmen, und uns wurde ein Zimmer mit kleiner Küche und einem Vorplatz zugewiesen. Für den Einzug hatten wir Feldbetten und einen kleinen Elektroherd bekommen. Jetzt konnten wir unsere Mahlzeiten selbst zubereiten. Zu unserer Hauswirtin konnten wir schnell ein freundschaftliches Verhältnis aufbauen, wofür wir ihr noch heute dankbar sind.
1946 gab es viele Buchecker, die wir Kinder täglich im Wald sammelten und zur Ölmühle brachten. Im Gegenzug erhielten wir dringend benötigtes Öl. Mein ältester Bruder fand eine Lehrstelle als Mauerer und ich, 13-jährig, konnte ein wenig Geld in der Rebveredlung „Turmberg“ verdienen. Die jüngeren Geschwister kamen in die Schule.
Im Mai 1947 spielte ich mit meinen Freundinnen auf dem Bahnhofplatz Söllingen. Da stieg aus dem gerade eingefahrenen Zug ein Mann, der eine Militärjacke und einen kleinen Koffer trug. Ratlos schaute er sich um und schien zu überlegen, wohin er sich wenden sollte. Beim längeren Betrachten des Heimkehrers erschauderte ich zutiefst und erkannte in ihm meinen von Krieg und Gefangenschaft gekennzeichneten Vater. Vor überschwänglicher Freude weinend, rannt ich auf ihn zu, umarmte ihn und führte ihn nach Hause zu unserer Mutter und zu meinen Geschwistern. Mein Vater berichtete, dass er aus der Kriegsgefangenschaft nach Solymar entlassen worden war. Dort erfuhr er von Verwandten von unserem Schicksal und machte sich sogleich auf den Weg zu uns nach Söllingen. Jetzt war unsere Familie wieder vereint. Wir konnten unser Glück noch gar nicht fassen.
Jetzt galt für meine Familie, sich hier in Deutschland ein neues Leben und eine neue Heimat aufzubauen. Rückblickend aus heutiger Sicht, vermag ich zu sagen, dass wir dieses Ziel mit sehr viel Mut, Zuversicht und Fleiß erreicht haben. Zu Beginn der Fünfziger Jahre lernte ich beim Tanz meinen späteren Ehemann Stefan Kurz kennen. 1954 heirateten wir und gründeten eine eigene Familie. Wir zogen nach Jöhlingen und bauten 1955 in der Wöschbacher Straße 20 unser erstes Eigenheim. Das benötigte Baumaterial erhielten wir aus Abbruch- und Schuttsteinen, die wir mit Hammer und Meisel säuberten und für den Rohbau wieder verwendeten. Als gelernter Maurer konnte mein Mann seine beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten beim Siedlungshausbau einsetzen. 1956 sind wir dort gemeinsam mit meinen Schwiegereltern eingezogen. 1957 kam unser Sohn Thomas, 1961 sein Bruder Martin auf die Welt. Zu unseren 5 Enkelkindern unterhalte ich (mein Mann starb 2020) regen Kontakt und freue mich über jeden Besuch von ihnen.
Nach unserem aktiven Arbeitsleben kauften wir in unserer alten Heimat Solymar/Ungarn ein kleines Häuschen, das wir liebevoll herrichteten und viele Jahre lang über die Sommerferien genießen durften. So blieb die alte Heimat immer ein Teil von uns.“


Necat Kayhan
Diese Geschichte von der Integration eines typischen Gastarbeiterkindes beginnt in einem kleinen Ort ca. 160 km südlich von Ankara, in der Nähe von Konya. Necat, das dritte von sechs Kindern, lebte mit seinen Eltern und den Geschwistern in relativ armen Verhältnissen. Der Ertrag von Haus und Hof mit Landwirtschaft reichte kaum für den eigenen Bedarf.
Die Anwerbekampagne für Arbeiter, die für das Wirtschaftswunder in Deutschland benötigt wurden, war für den Vater eine Chance, die Familie besser versorgen zu können. 1969 versuchte er sein Glück zunächst in Frankreich. Kurze Zeit später kam er als geduldeter Gastarbeiter nach Deutschland, nach Frankfurt, und fand Arbeit auf dem Bau. Wie damals von der Politik beabsichtigt, sollte die Gastarbeit nur wenige Jahre dauern – eine Integration war nicht beabsichtigt.
Die Mutter mit ihren sechs Kindern, alle zwischen 1 und 15 Jahre alt – Necat war 10 – und den zwei Omas blieben in ihrem Heimatort zurück. Der Vater kam in den Ferien zur Familie zu Besuch. Trotz der Arbeit des Vaters auf dem Bau war das Auskommen für die Familie mäßig. 1972 übernahm Necats ältester Bruder Dogan eigenmächtig die Verantwortung für die ganze Familie. Ihm war bewusst, dass er und seine Geschwister ohne die Basis einer guten Schul- und Ausbildung kaum eine Chance hätten, aus den ärmlichen Verhältnissen herauszukommen.
Dogan brach das Gymnasium ab, verzichtete zu Gunsten seiner Geschwister auf eine mögliche Berufsausbildung, ging als 17-jähriger ebenfalls nach Deutschland und fand Arbeit in dem Unternehmen, in dem auch sein Vater arbeitete. Durch das zweite Einkommen – auch Dogan lieferte sein Einkommen an die Familie zuhause – war es möglich, dass die Geschwister eine gute Schulbildung erhalten konnten.
So konnte Necat das Gymnasium in der Türkei besuchen und schloss dieses mit knapp 18 Jahren erfolgreich ab. Und Dogan ergriff erneut die Initiative. Er ermöglichte es, dass er Necat im Februar 1977 nach Frankfurt holen konnte. Dogans Ziel: Necat sollte ein Ingenieurstudium absolvieren. Für Necat war dies ein Traum. Er setzte alles daran, diesen zu realisieren. Ihm war bewusst, dass die deutsche Sprache die Tür zum Studium, aber auch die größte Hürde bedeutete. Vorkenntnisse hatte er keine. Also startete er zielstrebig an der VHS mit dem Unterricht – und mit Erfolg, so seine Lehrerin, die sein Potential wohl erkannte und ihn forderte und motivierte. Trotzdem fiel er in ein Loch, da es für ihn nicht schnell genug ging, so seine eigene Einschätzung über seine sprachlichen Fortschritte. Die Wende kam, als er nach bereits vier Monaten seinen Vater zum Einwohnermeldeamt begleitete und dort erfolgreich die Verhandlung mit dem Beamten führte. Das motivierte ihn. Bereits nach sechs Monaten intensivem Pauken im Sprachunterricht konnte Necat problemlos im Alltag kommunizieren.
Über seinen Bruder Dogan fand er Zugang zu einem Sportverein und einem Jugendzentrum, was ihn wiederum in Kontakt zu anderen Jugendlichen brachte. Unter anderem lernte er so seine deutsche Freundin kennen. Sie ist seit 1981 seine Ehefrau. Nach einem Jahr hatte er einen großen Bekanntenkreis und war akzeptiert.
Dank seiner Sprachbegabung und wohl mit ideeller Unterstützung seiner deutschen Freundin holte er in Gießen das Fachabitur nach, das ihm die Tür zur Fachhochschule in Frankfurt öffnete. Er studierte dort Elektrotechnik und erlangte 1985 sein Diplom. Direkt nach dem Studium, zogen die beiden – mittlerweile verheiratet und mit der ersten, 1983 geborenen Tochter – nach Durlach.  Bei Radio Becker in Ittersbach fand er einen Arbeitsplatz als Entwicklungsingenieur. Er machte die Erfahrung, dass sein fachliches Ingenieurwissen zwar vorhanden war, doch musste dies auch sprachlich kommuniziert werden. Das war zunächst schwierig, doch er lernte schnell.
1987 kam die zweite Tochter zur Welt, und 1990 wechselte Necat zu Bosch in Karlsruhe, zunächst als Produktmanager, dann im Marketingmanagement mit internationalen Kontakten, auch mit der Türkei. Zwischendurch war er als Betriebsleiter in den USA bei einer Firma, die Bosch übernommen hatte.
Im Februar 1994 zog die Familie in das erworbene Haus in Jöhlingen. 2019 startete Necat in die passive Altersteilzeit.
Anmerkung des Verfassers:
Die Familie Kayhan lernte ich im Sommer 1994 bei einem Klassenfest in der „Wüste“ kennen. Die jüngere Tochter und mein Sohn waren Klassenkameraden von der Grundschule bis zum Abitur. Bei diesem Klassenfest kamen wir ins Gespräch, und ich bemerkte erst nach einiger Zeit, dass Necat mit seinem leichten hessischen Akzent kein Muttersprachler war. Zwischen unseren Familien entwickelte sich eine Freundschaft, und ich durfte im Laufe der Jahre Necats Geschwister und auch die Mutter kennenlernen (der Vater ist bereits 1986 verstorben). Obwohl die Geschwister verstreut in Europa leben, hat mich die familiäre Verbundenheit beeindruckt.

Die ganze Familie von Necat hat sich von Anbeginn in Jöhlingen wohlgefühlt, sich in Vereinen engagiert und so hat sich ein großer Freundeskreis um die Familie gebildet.

„Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen“ (Max Frisch, 1965)


Yaman Ibo

Als 2015 die Flüchtlingswelle auch über Walzbachtal schwappte, waren darunter sehr viele Syrer. Einer von ihnen war Yaman Ibo. In einem Vorort von Damaskus hatte seine Familie ein erfolgreiches Einzelhandelsgeschäft, bei dem er und sein Bruder mithalfen. Der Papa habe sich dabei auf die Herstellung von Gewürzen spezialisiert. Kümmel und eine besondere Gewürzmischung seien so beliebt gewesen, dass davon wöchentlich bis zu 100 kg über die Ladentheke gegangen seien, berichtet Ibo mit Stolz.
Die Kunden seien aus der ganzen Region gekommen. Das Geschäft wie auch das mit einem stattlichen Pool ausgestattete Wohnhaus sei während des Bürgerkriegs Fassbomben-Angriffen der Assad-Luftwaffe zum Opfer gefallen. Heute noch trifft es ihn hart, wenn er sich auf dem Handy die von ihm aufgenommenen Videos der Zerstörung anschaut. In einer Nachbarstadt sei es seiner Familie dennoch gelungen, einen kleinen Nachfolgebetrieb zu etablieren und aufrechtzuerhalten.
Ein Großteil der Familie ist seither weit verstreut. Einen Bruder schlage sich unter schlimmen Bedingungen mehr schlecht als recht in Libyen durch. Eine Schwester ist nach Saudi-Arabien geflohen. Er selbst konnte und wollte nicht mehr in Damaskus bleiben, nachdem er sein Studium als Fachinformatiker beendet hatte. Er desertierte, als er 2015 in die Armee eingezogen werden sollte. Gegen das eigene Volk wollte er nicht kämpfen.
Die von den Eltern finanzierte Flucht führte ihn zunächst in den Libanon als Anfang einer 14-tägigen Odyssee, die durchaus nicht ungewöhnlich war und die man aus der Berichterstattung der deutschen Medien zum großen Teil kennt. Mit einem großen Kreuzfahrtschiff sei er vom Libanon aus in die Türkei gelangt. Von dort wiederum mit einem Schlauchboot auf die griechische Insel Samos.
Weiter ging es über Nord-Mazedonien, Kroatien, Serbien, Ungarn und schließlich Österreich. Besonders unangenehm ist ihm die Zeit in Kroatien in Erinnerung als seine 5700 Köpfe zählende Flüchtlingsgruppe von rabiaten Spezialkräften der Armee umzingelt wurde.
Danach habe er weite Strecken zu Fuß absolvieren müssen. In 13 Tagen sei er nach dem Start  am 11. September 2015 von Damaskus nach Deutschland gekommen. Der letzte Tag ist ihm unvergesslich geblieben, als seine Flüchtlingsgruppe auf einer Brücke über der Donau bei Passau übernachtete.
In Deutschland angekommen landete er zunächst bei einem Freund in Köln. Es folgte die vom Bundesamt für Migration zugewiesenen Stationen Karlsruhe, Heidelberg, Heidelsheim und schließlich Wössingen, wo er Unterschlupf in einer Anschlussunterbringung der Gemeinde fand. Vor drei Jahren hat er nach privaten Bemühungen eine eigene kleine Wohnung gefunden, die er selbst finanziert. Dort hat er sich eine kleine IT-Anlage aufgebaut, wo er an persönlichen Projekten und Programmen von Adobe arbeitet.
Er ist ein sehr sportlicher Typ und war in seiner Heimat in Damaskus als Schüler sehr erfolgreich in den mittleren Laufstrecken. Über mehrere Jahrgänge hinweg sei er in der Millionenmetropole Damaskus schnellster gewesen über 1500 Meter. Die sportliche Betätigung vermisst er hier in Deutschland sehr. Höchstens dass er mal bei dem Zementwerkslauf mitgemacht hat. Seine Form sei dabei allerdings nicht gerade vorzeigenswert gewesen, weil er nicht trainieren konnte, wie er bedauert. Einen kleinen Trost hat er aber parat: „Ich war nicht der Letzte.“ 
Vom Zieleinlauf hatte er es nicht weit bis zu seiner damaligen Wohnung, die in einem ehemaligen Zementwerksgebäude direkt am Start lag. Das Zementwerk war auch die erste Station, bei der er für ein paar Monate beruflich Fuß fassen konnte. Als in Damaskus ausgebildeter ITler kümmerte er sich dort um die Wartung der PCs. Ein folgender Versuch in einem Brettener Supermarkt war nicht so erfolgreich.
Immer jedoch war er auf der Suche nach Weiterbildung. So machte er nicht nur den Führerschein, sondern auch den als Gabelstaplerfahrer. Über diese Arbeit fasste er in einer Festanstellung Fuß bei einem Unternehmen in Königsbach. Sein Arbeitgeber merkte schnell, dass mehr in ihm steckt und bot ihm einen Arbeitsplatz an, der im Bereich seiner IT-Ausbildung liegt. Jetzt arbeitet er als Kommissionierer und ist für den Wareneingang zuständig.


Liisa Heinze
wohnt seit 1993 in Jöhlingen, aber aufgewachsen ist sie in Tampere, Finnland, etwa 2000 km nördlich von hier.
Nach Deutschland kam sie als Studentin der Translatorik  (Übersetzen und Dolmetschen auf Finnisch, Deutsch und Schwedisch) zum Erlernen der deutschen Sprache, geblieben ist sie der Liebe wegen.  Der erste Kontakt mit Deutschland kam zustande, als sie noch Schülerin war. Sie nahm an einem deutsch-finnischen Schüleraustausch teil und verbrachte die sechs Wochen Sommerferien auf einem Bauernhof in Westfalen.  Nach dem Abitur entschied sie sich für das Studium der deutschen Sprache, und während des Studiums absolvierte sie, ebenfalls in Westfalen, ein Praktikum in einer Hotelküche. Die Arbeit war sehr anstrengend und sprachlich wenig ergiebig, sodass sie sich im weiteren Verlauf ihres Studiums zu einem zweiten Praktikum entschloss, diesmal in Karlsruhe im Auslandsamt der Technischen Hochschule (KIT).
Während ihres zweiten Praktikums am KIT lernte sie ihren späteren Mann kennen, einen Studenten der Informatik.  Nun stellte sich für das junge Paar die Frage, wo es seinen gemeinsamen Wohnsitz
aufschlagen könne. Als Informatiker und als Dolmetscherin hätten sie sowohl in Finnland als auch in Deutschland gute Arbeitsplätze gefunden.  Sie entschieden sich aus praktischen Gründen für Deutschland, da Liisa mit ihrem Studium früher fertig war, während ihr Mann noch ein Jahr länger bis zu seinem Examen brauchte und er damals noch kein Finnisch konnte.  
Nach dem Abschluss ihres Studiums heiratete sie, zog nach Deutschland und arbeitete bis zur Geburt ihrer ältesten Tochter bei Burda in Offenburg. Dann zog sie sich zunächst aus dem Berufsleben zurück, um ihre beiden Kinder zu erziehen. So hätten es zumindest deutsche Frauen in den frühen neunziger Jahren formuliert, für die eine Entscheidung  gegen den Beruf zugunsten der Familie wenigstens für ein paar Jahre weitgehend normal war. Nicht so für Liisa. In Finnland gehen Frauen höchstens ein Jahr in Babypause und dann zurück in den Beruf. Dabei werden sie von einem flächendeckenden, gut ausgebauten System von Kindertagesstätten unterstützt. Das war in Deutschland damals noch nicht allgemein üblich und Liisa sah sich mit ihren zwei kleinen Kindern plötzlich ganz auf sich alleine gestellt. Sollte sie ihr Studium „vergessen“ oder nach Möglichkeiten suchen, Arbeit und Kinder miteinander in Einklang zu bringen?  Anfangs begann sie, sich mit benachbarten Müttern in der Kinderbetreuung abzuwechseln, um so wenigstens stundenweise arbeiten zu können. Dabei kam ihr zugute, dass sie ihre Arbeit freiberuflich und am heimischen Schreibtisch erledigen konnte. Später kamen AuPairs und Tagesmütter zum Einsatz, und als die Kinder, damals erst mit vier Jahren, einen Platz im Kindergarten fanden, wurde ihr Arbeitsleben planbar und sie arbeitet bis heute als freie Übersetzerin und Dolmetscherin.
Es war Liisa sehr wichtig, dass ihre beiden Töchter zweisprachig aufwachsen. Zweisprachigkeit ist ein Schatz, den man im späteren Leben kaum noch erwerben kann. Und durch die regelmäßigen jährlichen Besuche bei den Großeltern und Verwandten in Finnland wurde ihnen auch die finnische Kultur und Mentalität vertraut, - so sehr, dass die älteste Tochter sich dazu entschieden hat, in Finnland Abitur zu machen, seitdem dort lebt und sich am Polarkreis eine Existenz in der Tourismusbranche aufbaut.

Was fehlte Liisa damals in den frühen 90er Jahren in Deutschland? Es fehlten ihr außer den Kindertagesstätten  ganz besonders die Eltern, die Familie und die Freundinnen, die Oma, die sie manchmal gerne zum Babysitten eingeladen hätte. Es fehlten ihr die Muttersprache, finnische Zeitungen und das finnische Fernsehen, zu einer Zeit, als der private Satellitenempfang selten war und es noch keine Smartphones gab.
Was mag sie heute an Walzbachtal? Die hügelige Kraichgaulandschaft , die weiten Wiesen und Felder und dass man immer wieder bekannte Gesichter sieht, wenn man ins Dorf geht. Und sie kennt so manche durch ihr Engagement in der Gemeinde. Seit 2015 arbeitet sie bei der Flüchtlingshilfe Walzbachtal mit. Durch ihre eigene Erfahrung, die Heimat verlassen zu haben, ist sie für diese Aufgabe geradezu prädestiniert und kann den geflohenen Menschen mit der notwendigen Sensibilität begegnen.
Außerdem engagiert sie sich in drei deutsch-finnischen Organisationen in Karlsruhe. Auf diese Weise hält sie Verbindung zu ihrer alten Heimat. Im letzten Jahr hat Liisa zum ersten Mal auf die Sommerferien in Finnland verzichten müssen, wegen der Corona-Pandemie. Aber sie wird die Kontakte nach dort nicht abreißen lassen, zumal ihre älteste Tochter sich dort niedergelassen hat, und sie plant eine Reise nach Finnland, die in diesem Sommer wieder möglich sein wird, da sie bis dann die zweite Impfung gegen Covid 19 erhalten hat.


Die Familie von Salvatore Misuraca
Naro, ein kleiner Ort auf Sizilien in Süditalien Ende der Fünfziger im letzten Jahrhundert. Viele Bewohner arbeiten hauptsächlich in der Landwirtschaft als Tagelöhner, oft sind sie arbeitslos. So auch Vincenzo Misuraca, der Vater des seit 1984in Jöhlingen lebenden Salvatore Misuraca. Seine Frau Concetta hat keine Arbeit. Das Geld reicht kaum, um eine Familie zu gründen, geschweige denn eine zu ernähren. In Deutschland blüht das Wirtschaftswunder, und Arbeitskräfte werden dringend gesucht. Diese Information dringt auch zu Vincenzo über 2.000 km nach Sizilien. Eine Chance?
Das Ehepaar beschließt 1958, dass der Mann in Deutschland versuchen wird, die wirtschaftliche Situation zu verbessern. Er landet in Maulbronn und findet Arbeit in einer Gießerei – eine harte Arbeit. Er ist der einzige italienische Gastarbeiter und hat zu Beginn natürlich keinerlei Deutschkenntnisse. Trotzdem fasst er Fuß. Seine Frau und die Eltern sieht er einmal im Jahr im Rahmen des vierwöchigen Urlaubs. Die Reise im Zug dauert drei Tage – wohlgemerkt ein Weg. Der „Heimaturlaub“ hat Folgen. 1960 wird ihr erster Sohn Salvatore, genannt Salve, geboren.
Der Vater erleidet bei einem Arbeitsunfall in der Gießerei Verbrennungen an den Beinen. Nach der Genesung wechselt er die Arbeitsstelle, zieht nach Königsbach und ist dort bis zu seinem Tod in einem örtlichen Bauunternehmen tätig.
1962 kommt Salves Bruder Enzo zuhause auf Sizilien auf die Welt. 1963 folgt Concetta, die Mutter, ihrem Mann nach Königsbach. Die Beiden waren zu diesem Zeitpunkt die ersten Ausländer, die dort sesshaft wurden. Salve und sein Bruder aber bleiben für vier Jahre bei Oma und Opa in Naro. Sie sehen Ihre Eltern einmal im Jahr während dessen „Heimaturlaubs“, und da wird schon mal ein neues Fahrrad aus Deutschland mitgebracht. Dann endlich 1967 wird die Familie in Königsbach komplett. Salve wurde neu eingeschult, obwohl er die erste Klasse schon in Naro besuchte, aber keine Deutschkenntnisse hatte. Enzo kam in den Kindergarten. Für die Klassenlehrerin war es eine Herausforderung diesem ABC-Schützen in die Klasse zu integrieren und Deutsch beizubringen. Mit Bildchen malen und ihrem persönlichen Engagement gelang es ihr sehr gut – in wenigen Monaten konnte er Deutsch. Obwohl die Kinder tagsüber außerhalb der Schule auf sich gestellt waren, die Mutter ging ebenfalls arbeiten, kamen sie alleine einigermaßen gut zu recht. Auch mit den Hausaufgaben. Einmal wurde eine Nachbarin auf die beiden Jungs aufmerksam und wollte ihnen etwas Gutes tun – sie brachte ihnen Spätzle zum Essen. Salve fand die so toll und hat sich danach von ihr zeigen lassen, wie man Spätzle zubereitet. Von da an gab es zwei oder drei Mal in der Woche Spätzle zum Mittagsessen. Für Salve war das der Beginn seiner Hobby-Koch-Karriere.
Die Familie bekam anfangs der Siebziger nochmals Zuwachs – eine kleine Schwester. Für die beiden Jungs hieß dies nochmals ein Jahr bei Oma und Opa auf Sizilien zu verbringen. Wieder in Königsbach sollte Salve eine Klasse tiefer einsteigen, was ihm gar nicht behagte. Er wollte in den alten Klassenverband wie vorher, zu den Freunden, die Lehrer nicht. Er wollte es den Lehrern zeigen, und er hat es ihnen gezeigt. Nach ein paar Monaten konnte er aufgrund der gezeigten Leistung in seine alte Klasse.
Mit 15 begann die Lehre zum Kraftfahrzeugmechaniker in einem großen Autohaus in Pforzheim. Nach dreieinhalb Jahren wurde er übernommen und konnte sich schnell qualifizieren. Er wusste, er konnte mehr. Mit 22 begann er die Ausbildung zum Meister in der Abendschule, und es folgten drei Semester Betriebswirtschaft, ebenfalls in der Abendschule. 1984 heiratete er seine Frau, die aus Jöhlingen stammt. Dem Jöhlinger Schwiegervater half er dort ein Haus zu bauen, in dem das junge Paar eine Wohnung bezog. 8 Jahre später zogen Sie mit ihren mittlerweile drei Kindern in das eigene Reihenhaus in Jöhlingen, und nach dem Tod der Schwiegereltern übernahmen sie deren Haus, in dem sie heute noch wohnen.
1985 bot ihm sein Arbeitgeber, immer noch das Autohaus in Pforzheim mit 120 Mitarbeitern, eine Meisterstelle als Serviceberater an. Das war der Beginn einer Karriere, auf deren Höhepunkt er Betriebsleiter und stellvertretender Geschäftsführer war. Erstaunlich, dass er parallel über viele Jahre auch Betriebsratsvorsitzender war. Das zeugt von einer ehrlichen und gerechten Gesinnung und dem nötigen Sachverstand. Integrationsprobleme oder Diskriminierung aufgrund seiner Herkunft? Sicherlich nicht.
Aber wie fand Salve seine Integration als gebürtiger Italiener?
„In der Schule wurde ich anfangs schon gehänselt und war oft der Buhmann. Das war sehr belastend. Oft verfolgten mich die Mitschüler auf dem Heimweg in böser Absicht, bis ich mich einfach mal stellte. Es gab eine Rauferei. Doch von diesem Moment war ich akzeptiert.
Sport interessierte mich, und ich war im Sportverein gleich in mehreren Abteilungen aktiv, hauptsächlich aber beim Fußball. Mit 16 gründete ich mit einigen Mofa- und Moped-Kumpels den noch heute existierenden MSC Hommels e.V. Ich war der Vorstand. Diskriminierungen kannte ich zu diesem Zeitpunkt schon keine mehr. Doch dann, ich war anfangs 20 und hatte schon ein Auto, erlebte ich eine unschöne Überraschung. Mein Versicherungsvertreter teilte mir mit, dass die Allianz-Versicherung mir die Vollkaskoversicherung kündigt. Ich war verdutzt und dachte an ein Missverständnis – ich hatte keinerlei Schäden. Die Erklärung: Die Versicherung hat eine hohe Schadenshäufigkeit von Ausländern und kündigte denen die Vollkaskoversicherung. Da hatte mich meine Herkunft doch mal wieder eingeholt. Ich war verblüfft, denn ich fühlte mich schon zu diesem Zeitpunkt bei weitem nicht mehr als Ausländer.“
Salve hat mit Freunden den Traditionsverein „Frisch-Auf 1906“ im Jahre 2005 wiederbelebt und ist seither 1. Vorsitzender.
Im Jahre 2013 stand eine berufliche Veränderung an. Er ist in die Selbständigkeit gegangen und hat in Königsbach ein Autohaus übernommen, das er zusammen mit seinem älteren Sohn führt. Er fühlt sich voll und ganz als Eingegliederter, als Walbachtaler.


Hossein
Schon als Jugendlicher träumte Hossein davon, einmal wie seine Eltern ein eigenes Haus zu besitzen. Dass sich dieser Traum eines Tages ausgerechnet im schönen Kraichgau in Walzbachtal erfüllen sollte, konnte sich Hossein damals beim besten Willen nicht vorstellen.
Hossein wurde 1984 in Teheran geboren und wuchs gemeinsam mit 4 weiteren Geschwistern und seinen Eltern in einem Stadtteil der 10 Millionenmetropole auf. Den Schulbesuch beendete Hossein 2002 mit dem Ablegen des Abiturs. Im Anschluss daran nahm Hossein an der Semnan-Universität in Semnan sein Informatikstudium auf und legte 2007 die Bachelorprüfung in seinem Fach ab. Zunächst arbeitete der frisch gebackene Informatiker als Softwareentwickler in der freien Wirtschaft und verdiente sich sein erstes Geld. Da Hossein als jüngster seiner Geschwister zu diesem Zeitpunkt noch bei seinen Eltern wohnte, konnte er eifrig Geld für die Zukunft ansparen.
2009 verließ Hosseins Schwester ihre Heimat und nahm ihr Mathematikstudium in Göttingen auf. Zu diesem Zeitpunkt reifte auch in ihm der Gedanke, die berufliche Herausforderung in einem der westlichen Industriestaaten zu suchen. Zur Auswahl standen Länder wie die USA, Großbritannien oder Deutschland. Letztendlich machte Deutschland das Rennen, was auch sicher mit der Standortwahl für das Studium seiner älteren Schwester zu begründen ist. 2011 besuchte Hossein Deutschsprachkurse beim Goetheinstitut in Teheran. Gleichzeitig beantragte er für den Aufenthalt in Deutschland ein Visum in der deutschen Botschaft und musste dafür eine Kaution in Höhe von € 8.000,-- hinterlegen.
Der schwierigste Teil seiner Reisevorbereitungen gestaltete sich im familiären Bereich. Hossein wollte sein sicheres und umsorgtes Zuhause bei seinen Eltern verlassen. Die Eltern von diesem Vorhaben zu überzeugen, kostete viel Kraft und Zeitaufwand. Schließlich willigten die Eltern ein und unterstützen das Vorhaben.
Im Januar 2012 bestieg Hossein eine Lufthansamaschine, die ihn von Teheran nach Frankfurt brachte. Am gleichen Tag fuhr er von dort mit der Bahn zu seiner Schwester nach Göttingen, wo die Schwester promovierte. Hossein zog weiter nach Clausthal. An der dortigen Volkshochschule belegte er Sprach-kurse, legte die Prüfungen der A-C1-Sprachkurse erfolgreich ab und bestand im Anschluss den DSH-Test, der ihn zum Hochschulstudium in Deutschland berechtigte.
Von 2014 bis 2018 studierte Hossein Informatik an der Universität Karlsruhe (KIT). Nach erfolgreichem Bestehen aller Prüfungen, erhielt er den akademischen Grad eines Masters. Seinen Aufenthalt in Deutschland finanzierte er mit eigenen Ersparnissen. Zusätzlich beteiligte er sich am studentischen Projekt „Wohnen für Hilfe“ in Kooperation mit dem Paritätischen Sozialdienst. Dessen Motto lautete: “Suche Zimmer – Biete Hilfe“. Hilfe suchende Menschen und Wohnung suchende Studenten sollten zusammengebracht werden. Dabei wurde die Anzahl der zu leistenden Dienstleistungsstunden mit der Größe des Zimmers verrechnet. Hossein fand ein Zimmer in Pfinztal, half der Vermieterin bei Garten- und Hausarbeiten und erledigte Einkäufe. Sein Zimmer hatte eine Größe von 16 qm³, folglich musste er 16 Stunden an Hilfeleistungen im Monat erbringen. Dafür wohnte er mietfrei und musste lediglich die Nebenkosten bezahlen. Hossein logierte seit 2015 bei seiner „Vermieterin“, und es entwickelte sich ein freundschaftliches Verhältnis zwischen den beiden, das bis heute anhält.
Hossein hatte gleich nach seinem Studium eine Arbeitsstelle bei SAP in Walldorf gefunden und arbeitet dort bis heute als Informatiker in der Softwareherstellung. Zu Beginn des Jahres 2020 verstarb in Jöhlingen die Schwägerin seiner Vermieterin. Die Verstorbene besaß ein Einfamilienhaus, das die Erben zum Verkauf anboten. Und jetzt sollte sich der Traum des jungen Hossein aus Teheran von einst in Walzbachtal erfüllen. Kurz entschlossen besichtigte er im Frühjahr 2020 das Objekt und kaufte es wegen seiner exponierten Randlage den Erben ab. Im August 2020 ist Hossein in sein neues Domizil eingezogen. Er legt großen Wert auf eine gute Nachbarschaft und möchte bald eine Familie gründen. Der musikalische Neubürger beabsichtigt, in den Musikverein des Ortes einzutreten. Doch leider muss er sich wegen der Corona-Pandemie noch gedulden, da bis auf weiteres keine Proben stattfinden. Aus gleichem Grund arbeitet er seit März 2020 im Homeoffice. Übrigens ist einmal in der Woche ein Freundschaftsbesuch in Pfinztal bei seiner ehemaligen Vermieterin angesagt


Die Familie von Peter Meizinger
Die Eltern von Peter Meizinger, der als Extremläufer und seinen Marsch nach Ungarn in Walzbachtal bekannt ist, gehörten zu den ursprünglich Deutschstämmigen in Ungarn, die ihre dortige Heimat nach Ende des 2. Weltkriegs zwangsläufig verlassen mussten.
Als „Donauschwaben“ wanderten viele Deutsche im 17. Und 18. Jahrhundert in diese Region aus und sind dort sesshaft geworden. So haben auch die Vorfahren von Peter in Bakonypölöske eine neue Heimat gefunden. Über viele Generationen hatten sie sich integriert und waren engagiert, haben aber ihr Deutschbrauchtum nie ganz abgelegt. Nach dem 2. Weltkrieg wurden die Deutschstämmigen in Ungarn – unter sowjetischen Einfluss - nach einem Kategorienschema eingestuft, und viele mussten als Vertriebene ihre Heimat verlassen, wurden nach Deutschland „umgesiedelt“.
So auch das Ehepaar Mathias und Maria Meizinger mit ihren zu diesem Zeitpunkt fünf Kindern - das Jüngste war noch keine drei Jahre alt und das sechste war unterwegs. Am 19. Juni 1946 mussten sie – insgesamt 384 Menschen – ihren Heimatort Bakonypölöske mit 20 kg Gepäck pro Person verlassen, zu der 15 km entfernten Stadt Papa marschieren und dort in einen mit Stroh ausgelegten Viehwaggon steigen. Plötzlich verspürten sie panische Angst und größte Zweifel, ob alles wirklich so ablaufen würde, wie es ihnen von der ungarischen Regierung in Aussicht gestellt wurde. Denn zwei Jahre zuvor wurden Juden durch die Straßen nach Papa getrieben und in gleicher Weise in Viehwaggons geladen mit dem Ziel zu den Vernichtungslagern. Viele hatten davon erfahren und fürchteten sich nun um ihre Zukunft. Doch es blieb keine Wahl.
Nach vier Wochen Fahrt mit vielen Unterbrechungen erreichten sie den Hauptbahnhof Karlsruhe. Es folgten dann vier Wochen Lageraufenthalt in der alten Kaserne in der Moltkestraße, bevor die Familien in verschiedene Unterkünfte im Landkreis verteilt wurden. Die Familie Meizinger landete zusammen mit verwandten Familien in Jöhlingen.
Wie sieht Peter (geboren 1948) – teilweise aus Erzählungen seiner Eltern – rückwirkend die Zeit nach der Vertreibung seiner Familie aus Ungarn?
„Die ersten Nächte verbrachte die Familie zum Schlafen auf dem Fußboden im Saal des Gasthauses zum Löwen. Das Essen konnten sie am offenen Feuer auf der Hauptstraße direkt am Walzbach zubereiten.
Eine 40 qm große Wohnung war dann bis 1954 die Bleibe für unsere, mittlerweile achtköpfige Familie. Gleich im ersten Jahr in Jöhlingen starb meine zweijährige Schwester an Pocken und kurz danach mein erst wenige Wochen alter Bruder an einer Lungenentzündung.
Mein Vater, ein gelernter Schuhmacher, nahm jeden Job an, den er bekommen konnte, um uns, seine Familie ernähren zu können. Zeitweise war er arbeitslos, wie damals so viele Männer. Es war eine schwierige Zeit der Integration und des sozialen Aufbaus.
Die erste Zeit in Jöhlingen war nicht leicht für unsere Familie. Argwohn der Einheimischen schlug uns entgegen. Hatten sie nach dem Krieg doch selbst Sorgen um ausreichend Nahrung und um die zuvor gesicherte Existenz. Die Vertriebenen blieben so zunächst unter sich, und erst mit der Zeit näherte man sich.
Ganz allmählich kamen dann aber bessere Zeiten. Unser Vater hatte ständig Arbeit, und unsere Mutter war teilweise bei liebenswerten Jöhlinger Bauersleuten in der Landwirtschaft tätig, was ihr ganz offensichtlich außer materiellen Vorteilen auch Spaß und das Gefühl von Anerkennung einbrachte. Und ganz nebenbei hatte sie mit meiner jüngeren Schwester und mir auch wieder zwei Kinder zur Welt gebracht. Wir waren die Jüngsten und hatten viel Spaß, wenn wir gelegentlich mit zur Feldarbeit gehen und ich helfen durfte. Die Bäuerin und ihr Mann, sowie einige weitere Frauen, waren nette, lustige Menschen und obendrein großzügig. Pro Tag bekam ich 1,00 DM und ein Vesper und an Kirchweih sogar 5,00 DM für uns Kinder und Käsekuchen mit Rosinen. Meine älteren Geschwister hatten der Reihe nach alle Ausbildungsplätze und somit eine geringe Verdienstmöglichkeit. Allmählich verlor sich auch der Eindruck, man wäre in den Augen der einheimischen Bevölkerung ein unerwünschtes Volk aus der Batschka und Bessarabien.
Ins besonders wir Kinder und meine älteren Geschwister kamen mit den einheimischen Kindern und Jugendlichen in Kontakt. So spielte mein ältester Bruder bereits 1953 Posaune in der Jöhlinger Feuerwehr-Blaskapelle und mein zweitältester war erfolgreicher Fußballer beim FC Victoria.
1955 bezogen wir im Attental, in der sogenannten „Paprika-Siedlung“, eine größere Wohnung.  Dort lebte ein „Flüchtlingsgemisch“ aus Preußen, Kroatien, Banat, Batschka, Ungarndeutsche, Böhmen, Mähren und dem Sudetenland.“
Peter heiratete 1973 seine Frau Elvira, die aus Jöhlingen stammt. Zwei Söhne wurden geboren und mittlerweile sind die Beiden mehrfache Großeltern. Der jüngere Sohn betreibt heute in Walzbachtal ein Bauunternehmen. Die Eltern starben in den Neunzigern.
Sind das die Nachkommen von verriebenen Ungarndeutschen? Kein Mensch fragt heute mehr danach, und vielen Walzbachtalern dürfte dies auch gar nicht mehr bewusst sein, wäre da nicht vor ein paar Jahren ein Ereignis gewesen, das die Herkunft der Familie wieder in Erinnerung gerufen hatte.
Peters Vater war in den Kriegsjahren Angehöriger einer Pioniereinheit – Ungarn war Verbündeter des nationalsozialistischen Deutschlands. Er kam 1945 in Stettin in englische Kriegsgefangenschaft. Sein zweiter Fluchtversuch aus der Gefangenschaft war erfolgreich, und er wanderte in 6 Wochen über 1.000 km zu seiner Familie zu seinem Heimatort Bakonypölöske. Peter kannte diese Geschichte, und der Marsch seines Vaters zur Familie in der Heimat beindruckte ihn schon immer. Am 15. April 1913 startete er, ebenfalls zu Fuß, von Walzbachtal und kam nach 24 Tagen und 981 km in Bakonypölöske an. Er widmete diese Tour seinem Vater.


Jamil Jamaleddin
kommt aus der syrischen Hauptstadt Damaskus, wo er 1987 geboren wurde. Dort lebte er zusammen mit seiner Mutter und seinem Bruder - der Vater war bereits verstorben - bis zu seiner Emigration im Jahre 2012. Nach seinem Schulabschluss erlernte er den Beruf des Elektrikers. Außerdem  leistete er ein Jahr und neun Monate den obligatorischen Militärdienst.
 
2011 brachen im Zuge des Arabischen Frühlings Unruhen gegen das Assad-Regime in Syrien aus, die sich schnell zu einem Bürgerkrieg entwickelten. Im Jahr darauf trat Jamil die Flucht aus Syrien an. Von einem Verwandten wurde er mit dem Auto in die 113 km entfernte libanesische Hauptstadt Beirut gefahren, wo er auf das Ende des Bürgerkriegs warten wollte.
 
Zwei Jahre lang lebte er in Beirut. Jamil arbeitete mit viel Freude in einem italienischen Restaurant, lernte Kochen und ein bisschen Italienisch und konnte so seinen Lebensunterhalt finanzieren.
Doch dann wurde auch in Beirut die Lage immer unsicherer durch die Ausweitung des anfangs innersyrischen Konflikts zu einem regionalen Krieg mit Akteuren unterschiedlicher religiöser Prägung und dem Eintritt der mittelgroßen und großen ausländischen Mächte mit je eigenen Interessen. In Beirut verbreitete die Hisbollah zunehmend Angst und Schrecken. Die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr nach Syrien zerstob und ein weiteres Zurückweichen wurde notwendig. Er verließ Beirut mit dem Schiff Richtung Istanbul und blieb dort ein Jahr. Jamil hielt sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser, was nicht so einfach war wie in Beirut, zumal die Stadt voll von syrischen Flüchtlingen war, die zunehmend weniger willkommen waren. Er kaufte sich ein Türkisch–Lehrbuch und lernte Türkisch, um seine beruflichen Möglichkeiten zu verbessern, bis er sich eines Tages dazu entschloss, den Weg nach Europa einzuschlagen und in Deutschland oder Schweden Asyl zu beantragen.
 
Er fuhr mit dem Bus nach Izmir, um von dort aus auf die griechische Insel Samos zu gelangen. Er kaufte einen Platz in einem Schlauchboot, aber erst im dritten Anlauf gelang die Überfahrt, da sie zweimal von türkischem Militär zurückgedrängt wurden. In dem Boot fanden 33 Personen Platz – Männer, Frauen und Kinder. Jamil hatte weniger Angst um sich – er kann schwimmen -, aber umso mehr um die Frauen und Kinder. Nach fünf Stunden Fahrt kam die ganze Besatzung unversehrt auf Samos an. Nach vier Tagen Aufenthalt auf Samos, wo er sich eine Ferienwohnung  gemietet hatte, konnte er mit dem Schiff nach Athen weiterreisen. Von dort ging es mit dem Bus weiter nach Saloniki im Norden Griechenlands, zu Fuß über die Grenze nach Makedonien, dann mit der Bahn nach Serbien, wo ein Camp der UN für eine Nacht zur Verfügung stand. Der Weg führte ihn weiter über Kroatien und Ungarn bis nach Wien, mal mit dem Bus, mal zu Fuß, mal mit der Bahn. Unterwegs hatte er sich ein Zelt gekauft, in dem er übernachten konnte, wenn er nicht gerade nachts im Zug oder Bus fuhr. In Wien bestieg er den Zug nach Mannheim und stellte nach der Ankunft einen Antrag auf Asyl.
Die „Reise“ von Istanbul bis Mannheim hatte 14 Tage gedauert.
 
In Mannheim wurden die Flüchtlinge aufgeteilt. Jamil kam von Mannheim in die Gemeinschaftsunterkunft nach Linkenheim, später in die Anschlussunterbringung nach Wössingen, wo er auf seinen Asylbescheid wartete und Deutsch lernte. Die positive Entscheidung des BAMF bekam er sieben Monate nach seiner Ankunft in Deutschland. Nachdem er ein Jahr in Wössingen in der Bruchsaler Straße gelebt hatte, fand er bei einer Jöhlinger Familie Aufnahme: eine kleine eigene Wohnung und einen Arbeitsplatz als Elektriker im Betrieb seines Vermieters.
 
Jamil fühlt sich hier in Jöhlingen wohl. Er gehört fast schon zur Familie seines Arbeitgebers und Vermieters. Er versteht sich gut mit seinen Kollegen, hat gute, teils freundschaftliche Beziehungen zu den Nachbarn in seiner Straße und ist vor einem Jahr in die Feuerwehr eingetreten. Leider hat das Corona–Virus diese Aktivität ausgebremst, aber Jamil hofft, dass es einst weitergehen wird mit praktischen Übungen, auf die er sehr gespannt ist.
 
Es gibt aber auch immer wieder Augenblicke, die ihn traurig stimmen. So, wenn er an seine Mutter und seinen Bruder denkt, die er sehr vermisst, oder an die monatlichen  Familientreffen im Hof seines Elternhauses in Damaskus. Da kamen gut und gerne 15 Personen zusammen, man führte lebhafte Gespräche, spielte Ball oder Karten und genoss das gute Essen seiner Mutter und Tanten, wie z. B. mit Fleisch gefüllte Zucchini in Yoghurtsoße.
Und noch etwas macht ihm zu schaffen: die Erfahrung von Rassismus, von Vorurteilen gegenüber Arabern und Muslimen in Deutschland, eine Erfahrung, die er selbst eher selten macht, aber immer wieder von Freunden berichtet bekommt, wenn Frauen mit Kopftuch beschimpft und Kinder von Mitschülern gemobbt werden.
 
Wie stellt sich Jamil seine Zukunft vor? Nach Syrien kann und will er nicht mehr zurückkehren. Der Krieg scheint kein Ende zu nehmen und das Regime ist stabil wie eh und je. Jamil ist jetzt 33 Jahre alt. Er ist schon seit längerer Zeit unabhängig von allen sozialen Leistungen und möchte sesshaft werden, eine Familie gründen und die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben.  Über die dafür erforderlichen Sprachkenntnisse verfügt er bereits, nur der Dialekt macht ihm hin und wieder Schwierigkeiten.
 
Im vergangenen Sommer hat Jamil eine Urlaubsreise nach Zypern unternommen, wo er eine dort lebende Cousine besuchte. Es war sein erster Flug und er brachte ihn - nun als Tourist - ganz nah an seine syrische Heimat. Vieles dort erinnerte ihn an zuhause: das mediterrane Klima, die Natur, das Essen und die Damaszener Häuser mit ihren von Rosen und Jasmin duftenden Innenhöfen.
 
Noch etwas möchte Jamil unbedingt erwähnen: Er dankt Deutschland, der Gemeinde Walzbachtal und seinem Chef von ganzem Herzen für die Möglichkeit, hier zu leben und für alles Gute, das ihm hier widerfahren ist.

zwei Hände greifen ineinander, eine hat helle Hautfarbe, die andere dunkle
Mehrere Personen bei einem Fest sitzen auf Biertischgarnituren
Hausaufgabenbetreuung an einem Gruppentisch